Sprengel Hildesheim-Göttingen, KK Hameln-Pyrmont | Patrozinium: Anna1 | KO: Calenberger KO von 1569

Orts- und Kirchengeschichte

Urkundlich ist das frühere Dorf südlich Hamelns erstmals Mitte des 13. Jh. nachgewiesen: 1247 ist eine Mühle in Wagliste genannt und der Hamelner Schultheiß besaß etwa zur gleichen Zeit zwei Häuser in Wangeliste (als Lehen des Propstes des Hamelner Stifts St. Bonifatius).2 Im Jahr 1483 wird das Dorf als wüst bezeichnet.3 Mitte des 19. Jh. bestand Wangelist aus „einige[n] altersgraue[n] Gebäude[n]“.4 In einer ersten Phase des Siedlungsbaus nach Ende des Ersten Weltkriegs siedelten sich hier überwiegend Arbeiterfamilien an (das ‚rote Wangelist‘); in der zweiten Hälfte des 20. Jh. kamen Eigenheimsiedlungen hinzu und der Südhang des Klüt entwickelte sich zu „einer besonders bevorzugten Wohngegend“ Hamelner Bürger und Neubürger.5 2019 lebten hier gut 2.980 Menschen.

Kirche, Außenansicht

Kirche, Außenansicht

Eine kerken tho Wangelist ist erstmals im Jahr 1405 belegt.6 Möglicherweise ist sie zusammen mit dem Dorf wüstgefallen. Vor 1466 ließ der Hamelner Rat in Wangelist ein Siechenhaus für Leprakranke errichten (Leprosorium), das später in ein Armenhaus umgewandelt wurde. Dieses Armenhaus bot Platz für „10 verarmte Bürger, auch mit ihren Familien“.7 Erstmals urkundlich erwähnt ist das Leprosorium, als Bf. Albrecht von Minden (amt. 1436–1473) im Jahr 1466 erlaubte, neben dem Siechenhaus Kapelle und Altar zu errichten (capellam et altare in eo de novo erigere).8 Als Grund nennt der Bischof die zu große Entfernung zur Pfarrkirche St. Bonifatius (propter nimiam distantiam ecclesiae parochialis). Die Älterleute oder Provisoren (oldermanni sive provisores) erhielten zudem das Recht, einen Priester für die Kapelle zu wählen. Zum Bau der Kapelle scheint es drei Jahre später gekommen zu sein: Der Aerzener Pfr. Johann Kreyenberg stiftete „den kranken seden luden to Wangelist […] eyne capellen oder bedehus […] myt eynem kerkhove by de capellen, da men graven mochte de armen und nemanden anders“.9 Der Bf. Albrecht unterstützte den Bau der Kapelle, indem er Besuchern des neuen Gotteshauses einen Ablass von 40 Tagen gewährte.10 Die Urkunde nennt St. Anna als Patrozinium der Kapelle. Am Sonntag vor Pfingsten 1469 wurde die St. Annen-Kapelle geweiht (14. Mai 1469).11
1475 bestätigte Bf. Heinrich III. von Minden (amt. 1473–1508) den Ablass und die Privilegien der Kapelle; überdies ergänzte er das Patrozinium um St. Franziskus, St. Georg und St. Elisabeth.12 Die beiden olderlüde der Kapelle wurden jeweils aus der Bäcker- und der Schuhmachergilde Hamelns gewählt (noch Mitte des 19. Jh.).13 An der Zugehörigkeit des Leprosoriums bzw. Armenhauses zum Kirchspiel des Hamelner Münsters änderte der Bau der Kapelle nichts. In der Kapelle fanden in den 1470er Jahren wöchentlich zwei Messen statt.14 Aus dem Jahr 1489 ist ein nun 100tägiger Ablass überliefert, den all jene erhielten, die an bestimmten Tagen die Kapelle besuchten, Geld für sie spendeten oder Bücher, Kelche, Kerzen, kirchlichen Schmuck oder sonstige für den Gottesdienst nötige Dinge schenkten (librisque, calicibus, luminaribus, ornamentis ecclesiasticis ac rebus aliis pro divino cultu necessariis).15 Zu den Ausstellern des Ablasses zählten die Kardinalbischöfe Rodericus von Porto († 1503, ab 1492 Papst Alexander IV.), Julianus von Ostia († 1513, ab 1503 Papst Julius II.) und Markus von Palestrina († 1491).16
Vermutlich zusammen mit der Muttergemeinde St. Bonifatius wechselte die St. Annenkapelle um 1540 zur luth. Lehre. Als Älterleute sind 1569 Johann Rinsche und Johann Kuntze17 bzw. Hans Kleinschmied und Johann Rinsche belegt.18 Aus der zweiten Hälfte des 18. Jh. ist eine Ansicht der Kapelle überliefert (colorierte Druckgrafik, Johann Friedrich Saltzenberg).19

Kirche, Blick zum Altar

Kirche, Blick zum Altar

Nachdem die Kapelle Wangelist Anfang des 19. Jh. französischen und preußischen Truppen als Wachhaus gedient hatte, wurde sie 1815 wiederhergestellt. Mitte des 19. Jh. hielt der zweite Hamelner Stadtprediger einmal im Monat einen Gottesdienst in der St. Annenkapelle.20 Wegen des fortschreitenden Siedlungsbaus in Wangelist ließ die Münstergemeinde die Kapelle 1934 vergrößern. Von 1935 bis 1952 gehörte Wangelist zum Pfarrbezirk West der KG Hameln, seit 1952 erneut zur wiedergegründeten Münstergemeinde. In den 1950er Jahren eröffnete die Gemeinde einen ev. Kindergarten in Wangelist, 1961/62 entstand nahe der Kapelle ein Gemeindehaus. Nach der Visitation der Münstergemeinde 1959 sprach sich LSup. Johannes Schulze (amt. 1957–1969) dafür aus, im Ortsteil Wangelist mit augenblicklich rund 1.600 Gemeindegliedern eine eigenständige Kirchengemeinde einzurichten. Zudem plädierte er dafür, der Hamelner Stadtvikarin Elisabeth Hahn (amt. 1952–1972/75) einen eigenen Gemeindebezirk zuzuweisen.21
Im folgenden Jahr übernahm Vikarin Hahn den Gemeindebezirk Wangelist und gehört damit zu den ersten Frauen im Bereich der Landeskirche, denen pfarramtliche Aufgaben übertragen wurden.22 1964 erhielt sie die Amtsbezeichnung Pastorin, 1968 eine Pastorinnenstelle. Im November 1969 beantragte der KV der Bonifatiusgemeinde die Verselbständigung des Pfarrbezirks Wangelist. Nach langwierigen Verhandlungen mit dem LKA Hannover wurde die neue „Ev.-luth. St.-Annen-KG Hameln-Wangelist“ schließlich zum 1. Juli 1971 gegründet.23 Die neue Gemeinde übernahm von ihrer Muttergemeinde St. Bonifatius eine Pfarrstelle. Erstmals amtierte damit innerhalb der Hannoverschen Landeskirche eine Pastorin in einem einstelligen Pfarramt, bislang hatten Pastorinnen lediglich Pfarrstellen in mehrstelligen Pfarrämtern übernehmen können.24
Der KV der Münstergemeinde hatte Wangelist 1971 als eine „bis vor kurzem noch ganz unkirchliche Arbeitersiedlung“ beschrieben, in der während der letzten Jahre „wirkliche Einsatzbereitschaft für die Kirchengemeinde entstanden“ sei.25 Für Pn. Hahn war ein zentrales „Ziel der Kirchengemeinde“, Kontakte zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Gemeinde – Arbeitern, Intellektuellen und Geschäftsleuten – herzustellen und Gespräche zu ermöglichen.26 Nach ihrer Pensionierung 1972 versah sie die Wangelister Pfarrstelle weiter bis 1975. Im Jahr 1980 zählte Wangelist rund 2.500 Gemeindeglieder und 1986 zog der Hamelner Sup. nach der Visitation ein positives Fazit: „In der Gemeinde wird gut gearbeitet! Geistliche Tiefe und missionarische Breite verbinden sich miteinander.“27
Der Stellenplan des KK Hameln-Pyrmont, aufgestellt 1999, sah für 2003 vor, die Wangelister Pfarrstelle für dauervakant zu erklären. Nach Protesten aus der Gemeinde blieb die Pfarrstelle als halbe Stelle bestehen und die Gemeinde übernahm bis 2010 die Finanzierung der zweiten Hälfte (Spenden, Rücklagen). Von 2013 bis 2017 war die St.-Annen-KG pfarramtlich mit der Hamelner KG Paul Gerhardt und der KG Hilligsfeld-Rohrsen verbunden. Seit 2017 hat die Wangelist wieder ein eigenes Pfarramt mit einer halben Pfarrstelle. Die Trägerschaft des ev. Kindergartens der St. Annenkirchengemeinde war 2010 auf den neugegründeten Verband der ev.-luth. Kindertagesstätten im KK Hameln-Pyrmont übergegangen.28 2016 ersetzte die Gemeinde das Gemeindehaus von 1961/62 durch einen Neubau.
Auf regionaler Ebene bildet die St. Annengemeinde zusammen mit den Hamelner Innenstadtgemeinden Markt und Münster sowie der KG Zum Heiligen Kreuz und der KG Am Ohrberg die Region 1 des KK Hameln-Pyrmont.

Umfang

Wangelist

Aufsichtsbezirk

Mit Gründung der St.-Annen-KG 1971 zum KK Hameln-Pyrmont.

Patronat

1469 besaß das Hamelner Stift St. Bonifatius Rechte an der Kapelle in Wangelist.29

Kirchenbau

Rechteckiger Fachwerkbau, ausgerichtet nach Südosten, ursprünglich erbaut wohl 1469. Satteldach mit Walm im Nordwesten, gedeckt mit Sandsteinplatten. Gemusterte Ziegelausfachung. Unterschiedliche Rechteckfenster an den Längsseiten (teilweise mit eingesetzten Rundbögen), dreiteiliges Rundbogenfenster in Rechteckrahmen nach Südosten; spitzbogiges Portal an der Nordostseite. Im Innern flache Balkendecke; gemaltes Weihekreuz (um 1470); gemalte Inschrift: „Christop….. A Anno do 1589 jar“. 1815 Instandsetzung. 1934 Umbau (u. a. nordwestlichen Anbau abgebrochen, Kapelle nach Nordwesten verlängert, verputzte Ausfachung durch gemusterte Ziegelausfachung ersetzt). 1969 Instandsetzung. 1986 Renovierung.

Fenster

Eingesetzt in die Fenster sind zwei Glasmalereifragmente (15./16. Jh.?) und mehrere Kabinettscheiben (um 1620).

Turm

Auf dem First offener Glockenträger mit sechsseitigem, schiefergedeckten Pyramidendach, bekrönt mit Kreuz. 1971 erneuert.

Skulpturen: „Maria Magdalena“, „Elisabeth von Thüringen“, „Mondsichelmadonna“, „Pietà“, „Anna selbdritt“ (von links nach rechts)

Skulpturen: „Maria Magdalena“, „Elisabeth von Thüringen“, „Mondsichelmadonna“, „Pietà“, „Anna selbdritt“ (von links nach rechts)

Ausstattung

Schlichter Blockaltar mit gemaltem Flügelretabel (um 1450, Schule des Konrad von Soest), Öl auf Holz, im Mittelfeld Maria auf dem Sterbebett, umgeben von den Aposteln; im linken Flügel oben Martyrium der hl. Katharina, unten Martyrium des hl. Vitus; im rechten Flügel oben Mariä Himmelfahrt, unten der hl. Nikolaus; auf den Außenseiten vier Szenen aus dem Leben Marias: Joachims Opfergabe, Verkündigung an Joachim, Begegnung Annas und Joachims, Mariengeburt; in der Predella vier Engel und zwei Wappen (Hohensteinsche Raute, Lippische Rose); Altar 2013 restauriert (Anja Hartmann, Delligsen). – Leicht erhöhte Holzkanzel mit Schalldeckel (17. Jh.), an den Wandungen des Kanzelkorbs zwei Gemälde (Petrus und Paulus). – Sandsteintaufe (13./14. Jh.), ursprünglich eventuell Weihwasserbecken. – Mehrere Holzskulpturen (um 1500), Mondsichelmadonna, Anna selbdritt, Maria Magdalena, Elisabeth von Thüringen. – Zwei Holzskulpturen (um 1600), Christus in Gethsemane, Pieta. – Inschriftentafel: „In den Jahren 1805 u[nd] 1806 ist die Capelle bey der Belagerung ausser der Stadt theils von Franzosen u[nd] theils von Preussen als Wachthaus gebraucht worden. Im Jahr 1815 ist solche unter meiner Aufsicht und durch Mitwirkung des Herrn Sÿnd. Lüders. Senat. Westrumb. Senator Amelung. Kamer. Bock. imgleichen vom Bäker und Schusteramt wieder hergestellet, der Herr Pastor Effler hat die erste Predigt daselbst gehalten. Hameln den 22ten November 1815 H. J. Bolle“. – Außen: Steinrelief (1730), St. Georg und Drache (Kopie, Original im Museum Hameln). – Steinerner Opferstock (1777), dahinter überdachte Holzplatte, darauf Medaillon mit Kreuzigungsgemälde und Inschrift: „Wer dem Armen giebt, der leihet dem Herrn, der wird ihm wieder Gutes vergelten“.

Orgel

1965 Harmonium vorhanden. Orgelneubau 1966, ausgeführt von Ludwig Hoffmann (Betheln), 3 I/–, mechanische Traktur, Schleifladen.

Geläut

Eine LG, e’’’ (Bronze, Gj. 1640), Inschrift: „Anno 1640“, Glocke 1971 gesprungen, repariert von Firma Lachenmeyer (Nördlingen).

Weitere kirchliche Gebäude

Pfarrhaus (Bj. 1971); Gemeindehaus (Bj. 2016; Vorgängerbau Bj. 1961).

Friedhof

Bei der Kapelle kirchlicher Friedhof des ehemaligen Armenhauses, umgeben von einer Mauer. Nicht mehr in Benutzung.

Landeskirchliches Archiv Hannover (LkAH)

E 5 Nr. 1095 (Konsistorialbaumeister); L 5a, Nr. 154–155, 1674, 1790–1791 (LSuptur. Calenberg-Hoya mit Verden-Hoya und Celle); S 09 rep Nr. 1216 (Presseausschnittsammlung).

Literatur & Links

A: Dehio, Bremen/Niedersachsen, S. 1332; Köhler & Gelderblom, Dorfkirchen, S. 244–251.
B: Hermann Müller: Das Armenhaus Wangelist bei Hameln, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 27 (1861), S. 195–208 [online; Hermann Weber: Die Kapelle des Stiftes Wangelist in Hameln. Erbaut 1469, Hameln [um 1969].
Internet: Bildindex der Kunst & Architektur: Kirche und Altar.

Weitere Bilder

Vielen Dank an P. i. R. Udo Wolten, der wesentlich zu diesem Artikel beigetragen hat.


Fußnoten

  1. Hennecke/Krumwiede, Kirchen- und Altarpatrozinien I, S. 202.
  2. UB Hameln I, Nr. 35 und Nr. 22 (zur Datierung dieser Urkunde: Naß, Untersuchungen, S. 188 ff.).
  3. UB Hameln II, Nr. 532.
  4. Müller, S. 195.
  5. LkAH, L 5a, Nr. 154 (Visitation 1974).
  6. UB Hameln I, Nr. 766.
  7. Müller, S. 196.
  8. Müller, Nr. 1 (S. 197); UB Hameln II, Nr. 407.
  9. UB Hameln II, Nr. 428.
  10. UB Hameln II, Nr. 430.
  11. Webe, S. 10.
  12. Müller, Nr. 6 (S. 200); UB Hameln II, Nr. 481.
  13. Müller, S. 195 und Nr. 7 (S. 204).
  14. Müller, Nr. 8 (S. 205).
  15. Müller, Nr. 11 (S. 207).
  16. Müller, Nr. 11 (S. 207).
  17. Siehe NLA HA Cal. Or. 100 Hameln Stadt Nr. 85.
  18. Siehe NLA HA Cal. Or. 100 Hameln Stadt Nr. 86.
  19. Digitalisat: http://diglib.hab.de?grafik=top-app-2-00002.
  20. Müller, S. 196.
  21. LkAH, L 5a Nr. 139 (Visitation 1959). Zu Elisabeth Hahn vgl. knapp Erhart, Lexikon, S. 152.
  22. LkAH, S 09, rep. Nr. 1216 (Die ersten Pfarrämter in weiblichen Händen, 04.10.1960).
  23. KABl. 1971, S. 227. Vgl. zu den Verhandlungen etwa LkAH, L 5a, Nr. 1674. Rückblickend sprach der LSup. 1987 von „dornigen Verhandlungen“, LkAH, L 5a Nr. 145 (Visitation 1987).
  24. LkAH, S 09, rep. Nr. 1216 (Kirchengemeinde Wangelist selbständig. Einmalig in der Landeskirche: „Ein-Mann-Pfarrstelle“ durch Pastorin besetzt, 02.07.1971). Vgl. insgesamt: Köhler, Angekommen, bes. S. 8 ff.
  25. LkAH, L 5a, Nr. 1674 (Vermerk, KV Münster St. Bonifatii, 22.01.1971).
  26. LkAH, L 5a Nr. 154 (Visitation 1974).
  27. LkAH, L 5a Nr. 155 (Visitation 1986).
  28. KABl. 2010, S. 116 ff.
  29. Dolle, Klosterbuch II, S. 554.