Sprengel Lüneburg, KK Gifhorn | Patrozinium: Vincenz1 | KO: Lüneburger KO von 1643

Orts- und Kirchengeschichte

Die früheste schriftliche Erwähnung Grassels findet sich möglicherweise im Verzeichnis der Schenkungen an das Kloster Fulda und ist etwa auf das 8. oder 9. Jh. zu datieren: Ein gewisser Durinc schenkte dem Kloster Güter in Grasaloh.2 Vielleicht ist auch das 1332 belegte dorpe to Graslege mit Grassel zu identifizieren.3 Das Dorf gehörte zum Papenteich (nachweislich 1489), der bei der welfischen Landesteilung von 1267/69 an das Teilfsm. Braunschweig gefallen war.4 Die Zugehörigkeit des Papenteichs – und damit auch Grassels – wechselte im 14./15. Jh. wiederholt zwischen den welfischen Teilfsm., bevor er 1428 endgültig an Lüneburg kam; das Gebiet bildete hier einen Teil des Amtes Gifhorn. Das welfische Teilfsm. Lüneburg fiel 1705 an das Kfsm. Braunschweig-Lüneburg (Kurhannover). In französischer Zeit zählte Grassel von 1810 bis 1813 zum Kanton Wendhausen im Distrikt Braunschweig des Departements der Oker im Kgr. Westphalen. Danach war das Dorf wieder Teil des Amtes Gifhorn, nun im Kgr. Hannover. Ab 1852 gehörte Grassel zum kurzlebigen Amt Papenteich zu Gifhorn, das 1859 wieder im Amt Gifhorn aufging. Mit der Annexion Hannovers kam das Dorf 1866 zum Kgr. Preußen. Seit Einführung der Kreisverfassung 1885 gehört Grassel zum Lkr. Gifhorn. Seit 1970 ist der Ort Teil der Samtgemeinde Papenteich und wurde 1974 nach Meine eingemeindet. Bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jh. war Grassel landwirtschaftlich geprägt und entwickelte sich dann zu einem Pendlerdorf (Arbeitsplätze überwiegend in Wolfsburg und Braunschweig). Im Jahr 1821 lebten knapp 230 Menschen in Grassel, 1905 fast 400, 1950 etwa 680 und 2019 knapp 800.
Im Registrum simplicis procuracionis per dioecesin halvestadensem (um 1400) ist Graslege als Kirchort im Archidiakonat Meine des Bistums Halberstadt belegt.5 Namen vorref. Geistlicher sind nicht überliefert.
Seit 1527 betrieb Hzg. Ernst I., später der Bekenner genannt, die Einführung der Reformation im Lüneburg. Das in diesem Jahr gedruckte Artikelbuch diente dabei, obwohl die Landstände es abgelehnt hatten, als Leitfaden.6 Einzelheiten zur Reformation in Grassel sind nicht bekannt. Im Lüneburger Pfründenregister von 1534 findet sich der Eintrag: Graßleve: Eyn parre horet tho Beffenrode In.7 Die Gemeinde war also selbständig (sie wird als Pfarre, nicht als Kapelle bezeichnet), hatte jedoch keinen eigenen Pfarrer, sondern wurde vom heute braunschweigischen Bevenrode aus versorgt. Erster namentlich bekannter ev. Prediger war der im Pfründenregister genannte Bevenroder P. Johann Evenstede.8 Im Jahr 1556 war Grassel bereits pfarramtlich mit der Gemeinde Essenrode verbunden (Güterverzeichnis 1556: „Güder der Pfarre tho Graslevehde. Ist den Pastoren tho Essenrode tho gelegt“); Sitz des Pfarramts war Essenrode, erster gemeinsamer Pastor war Hermann Schrimper (amt. 1556, 1564).9
1739 bemühte sich die Gemeinde Grassel um die Auflösung der pfarramtlichen Verbindung mit dem Nachbardorf und die Anstellung eines eigenen Geistlichen. Das Konsistorium genehmigte die Pläne jedoch nicht, erkannte Grassel allerdings als mater combinata an. Gegenüber Essenrode war Grassel also ebenbürtige Mutterkirche, nicht nachgeordnete Tochterkirche. Im Jahr 1863 ließ die Gemeinde Grassel das alte Kirchengebäude abbrechen und in den folgenden Jahren entstand nach Plänen des Hannoveraner Konsistorialbaumeisters Conrad Wilhelm Hase (1818–1902) ein neugotischer Neubau. Lediglich der Unterbau des mittelalterlichen Kirchturms blieb erhalten. 1866 konnte die Gemeinde die neue Kirche einweihen.
Während der NS-Zeit hatte zunächst P. Emil Lachmund (amt. 1905–1935) das gemeinsame Pfarramt der beiden Gemeinden inne. Sein Nachfolger P. Heinrich Münter (amt. 1936–1946) schrieb rückblickend im „Fragebogen zur Geschichte der Landeskirche von 1933 bis Kriegsende“, P. Lachmund habe zur NSDAP gehört und mit den DC sympathisiert. Allerdings sei er „in allem sehr gemäßigt [gewesen] und würde bei noch längerer Amtszeit die rein lutherische Haltung wieder eingehalten haben“. P. Münter selbst war kein Parteimitglied und stand kirchenpolitisch seit 1933 auf seiten der Hannoverschen Bekenntnisgemeinschaft.10 Das Verhältnis zwischen Kirche und Partei sei 1933 „durch bewußt nationalsozialistische Einstellung des Pfarrhauses positiv“ gewesen. Die Mitglieder des 1933 neugewählten KV gehörten alle der NSDAP an; die „stark durch die Partei gebundene[n]“ hätten ihr Amt während des Krieges niedergelegt, die anderen seien „durch lange Amtszeit in ihr Amt hineingewachsen, daß sie jetzt weiterhin bei Lage der Gemeinde als brauchbarste bleiben“. Nach der Visitation 1937 hatte der Sup. des KK Fallersleben notiert: „Die Kirchenvorsteher sind keine erweckten Christen“.11 Im Hinblick auf kirchenpolitische Fragen schrieb P. Münter 1937, die Männer der Gemeinde zeigten „eine furchtsame Zurückhaltung oder lehnen eine nach dem Bekenntnis ausgerichtete Predigt und Kirche ab. Sie denken sich die Predigt etwa im deutsch-christlichen Sinne moderner.“ Aussicht auf Besserung bestehe besonders, da „die Frauen der Gemeinde fast durchweg ganz anders denken und die Männer mit der Zeit beeinflussen werden“.12 Nach Ende des Krieges resümierte P. Münter, für den Kirchenkampf hätten seine beiden Gemeinden kaum Interesse oder Verständnis aufgebracht – „höchstens ein pharisäerhaftes sich Entrüsten über die gottlosen Zeiten, wobei aber durchweg das Wort Gottes auch für die, die sich zur Kirche noch hielten, eine unverbindliche Angelegenheit blieb, sodaß die verheerenden Irrlehren allmächlich immer tiefer in den seelischen Hohlraum einsickern konnten“.13
Mit P. Hans-Adolf Diestelkamp (amt. 1947–1949) übernahm in der Nachkriegszeit ein Ostgeistlicher das Pfarramt Essenrode-Grassel. Obwohl die beiden Dörfer seit Mitte des 16. Jh. pfarramtlich verbunden waren, besaßen sie ein je eigenes Gemeindeleben. Nach der Visitation 1991 merkte der Sup. des KK Gifhorn an, es sei „immer noch schwer möglich, für beide Gemeinden gleichzeitig eine Veranstaltung in der einen oder anderen Gemeinde anzubieten“.14 Im Jahr 2019 schließlich endete die jahrhundertealte Verbindung der beiden Gemeinden. Seit Dezember 2019 ist die KG Grassel pfarramtlich mit der KG Meine verbunden.

Umfang

Das Dorf Grassel.

Aufsichtsbezirk

Archidiakonat Meine der Diözese Halberstadt.15 – Nach der Reformation zur Insp. Gifhorn (1924: KK Gifhorn). Ab April 1927 KK Fallersleben (1965 umbenannt in KK Wolfsburg).16 Seit 1. April 1984 wieder KK Gifhorn.17

Patronat

Der Landesherr (bis 1871). In der ersten Hälfte des 18. Jh. kam es zwischen dem Hannoveraner Konsistorium und Gotthard Heinrich August von Bülow, Besitzer des Ritterguts Essenrode, zu Auseinandersetzungen wegen des Patronats über die Kirchen in Essenrode und Grassel; Grassel blieb jedoch eine landesherrliche Pfarre.18 Da Essenrode Sitz des Pfarramts war, konnte die KG Grassel allerdings auch nach Einführung des Pfarrwahlgesetzes von 1870, das eine Besetzung der Pfarrstelle abwechselnd durch die Kirchenbehörde (Ernennung) und die Gemeinde (Wahl) vorsah, nie eine Pastorin oder einen Pastor wählen.

Kirchenbau

Neugotischer, dreiachsiger Rechteckbau mit niedrigerem fünfseitigen Chor und seitlichen Choranbauten, errichtet 1863–66 (Entwurf: Conrad Wilhelm Hase).19 Satteldach, östlicher Giebel bekrönt mit Steinkreuz; Chor und Anbauten mit abgewalmten Satteldächern, Chor bekrönt mit Kugel und Stern; Backsteinmauerwerk; am Langhaus Strebepfeiler, dazwischen breite Spitzbogennischen mit gekuppelten Spitzbogenfenstern und Rosette; an Chor und Anbauten Strebepfeiler und Spitzbogenfenster. Im Innern Kreuzrippengewölbe in Schiff und Chor; zwischen Chor und Schiff bemalter Triumphbogen: Jesus als guter Hirte, Inschrift: „der Herr ist mein Hirte mir wird nichts mangeln. Psalm 23“ (um 1930); Westempore, in der Mitte trapezförmig hervortretend.

Fenster

Im Altarraum zwei Buntglasfenster (um 1930) mit Darstellung der Taufe Christi (Inschrift: „Matthäus 3,13: zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johannes, daß er sich taufen ließe“) und der Einsetzung des Abendmahls (Inschrift: „Lucas 24,30: und da er mit ihnen zu tische saß nahm er das Brot dankte brach’s und gab’s ihnen“). Farbige Friese an den übrigen Fenstern. 1900 und 1930 Renovierungen. 1991–96 grundlegende Instandsetzung und Renovierung.

Turm

Rechteckiger Westturm mit mittelalterlichem Unterbau, Glockengeschoss und Turmhelm erbaut 1863–66. Unterbau aus verputztem Werk- und Bruchsteinmauerwerk, Glockengeschoss aus Backsteinmauermerk, verschieferter Turmhelm mit rechteckigem Ansatz und achteckig ausgezogener Spitze, daran vier kleine Dachgauben, Spitze bekrönt mit Kugel und Wetterhahn. Nach Norden, Westen und Süden je drei spitzbogige Schallfenster, das mittlere jeweils nach unten verlängert.

Vorgängerbau

Wohl mittelalterliches Kirchenschiff 1863 abgebrochen.

Ausstattung

Blockaltar mit hölzerner Mensa und seitlichen Schranken. – Neugotisches hölzernes Altarretabel mit spätmittelalterlichem Mittelschrein aus Nettelrede (um 1500 und 1864–66, Conrad Wilhelm Hase), im Mittelschrein Kreuzigungsgruppe mit Maria und Johannes, seitlich je zwei Evangelistenreliefs, in bekrönender Nische Christus mit Siegesfahne; in der Predella kleines Holzrelief (Pelikan mit Jungen). – Neugotische hölzerner Kanzel rechts vor dem Altarraum (um 1866). – Hölzerner, pokalförmiger Taufständer. – Osterleuchter (2010, Kirsten Wittstruck, Hannover).

Orgel

1856 oder 1866 Neubau, ausgeführt von Johann Andreas Engelhardt (Herzberg), 13 II/P, mechanische Traktur, Schleifladen. Zinnerne Prospektpfeifen wohl 1917 ausgebaut, zu Rüstungszwecken abgegeben und durch Holzpfeifen ersetzt. 1978 Instandsetzung und Veränderung der Disposition, ausgeführt von Firma Schmidt & Thiemann, 13 II/P, mechanische Traktur, Schleifladen.

Geläut

Zwei LG, I: f’, Inschrift: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Psalm 23,1“, Bild: Christus als guter Hirte; II: a’, Inschrift: „Jesus Christus spricht: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Matth. 11,28“, Bild: Christusmonogramm (beide Bronze, Gj. 2016, Firma Bachert, Karlsruhe), beide Glocken tragen zudem die Inschrift: „Ev.-luth. Kirchengemeinde St. Vincenz zu Grassel A[nno] D[omini] 2016“. – Früherer Bestand: Bronzeglocken im Ersten Weltkrieg zu Rüstungszwecken abgegeben. Als Ersatz zwei LG, I: a’; II c’’ (beide Eisen, Gj. 1920, Firma Weule, Bockenem); 2016 abgenommen und vor der Kirche aufgestellt.

Friedhof

Kommunaler Friedhof am nordöstlichen Dorfrand. FKap. Bis Anfang der 1980er Jahre auch ein kirchlicher Friedhof.

Landeskirchliches Archiv Hannover (LkAH)

A 1 Nr. 3271–3272, 3277–3281 (Pfarroffizialsachen); A 9 Nr. 669Digitalisat, 670Digitalisat, 671Digitalisat, 672Digitalisat (Visitationen); D 64 (EphA Fallersleben-Wolfsburg); L 5a Nr. 1656 (LSuptur. Calenberg-Hoya); S 09 rep Nr. 1195 (Presseausschnittsammlung); S 11a Nr. 7394 (Findbuch PfA).

Kirchenbücher

Taufen: ab 1739
Trauungen: ab 1739 (Lücken: 1823)
Begräbnisse: ab 1739
Kommunikanten: ab 1827 (Lücken: 1829–1875, 1889, 1941–1944)
Konfirmationen: ab 1780 (Lücken: 1823, 1857–1875)

Literatur

A: Dehio, Bremen/Niedersachsen, S. 553; Kiecker/Lütgens, KD Kr. Gifhorn, S. 149–150; Meyer, Pastoren I, S. 276–277; Rund, Ortsverzeichnis Lkr. Gifhorn, S. 96–97.
B: Johannes Klingsing (Hg.): Die Kirche zu Essenrode (= Beiträge zur Geschichte des Kreises Gifhorn 4), Gifhorn 1968.

GND

2112211-8, Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde (Grassel)


Fußnoten

  1. Hennecke/Krumwiede, Kirchen- und Altarpatrozinien II, S. 24: mittelalterliches Patrozinum unbekannt.
  2. Dronke, Trad. Fuld. § 41, 104; das Verzeichnis ist in einer Abschrift des 12. Jh. erhalten. Vgl. auch Casemir/Ohainski, Niedersächsische Orte, S. 46. Der Ort ist leicht mit Grasleben im Lkr. Helmstedt zu verwechseln, vgl. Rund, Ortsverzeichnis Lkr. Gifhorn, S. 96.
  3. UB Braunschweig III, Nr. 350 (S. 264). Vgl. auch Rund, Ortsverzeichnis Lkr. Gifhorn, S. 96.
  4. Zum Papenteich vgl. knapp: Rund, Ortsverzeichnis Lkr. Gifhorn, S. 172 ff.; zu den welfischen Landesteilung 1267/69 Pischke, Landesteilungen, S. 35 ff. Die Gf. von Wohldenberg besaßen Grafschaftsrechte im Papenteich, die sie 1338 an die Welfenherzöge verkauften und als Lehen zurück erhielten.
  5. Strombeck, Archidiakonat-Eintheilung Halberstadt, S. 81.
  6. Sehling, Kirchenordnungen 16. Jh. Bd. 6,1, S. 484 und 492 ff.
  7. Salfeld, Pfründenregister, S. 97. Rund, Ortsverzeichnis Lkr. Gifhorn, S. 96, geht aufgrund der späteren Zusammengehörigkeit mit Essenrode davon aus, dass es sich bei der Angabe um einen Irrtum handelt und nicht Bevenrode, sondern auch hier schon Essenrode gemeint ist.
  8. Bei Seebaß/Freist, Pastoren, nicht erwähnt.
  9. Zit. bei Klingsing, S. 11; NLA HA, Dep. 122, Nr. 350, NLA HA, Dep. 122, Nr. 351 und NLA HA, Dep. 122, Nr. 462.
  10. LkAH, S 1 H III Nr. 514, Bl. 2. Die folgenden Zitate ebd. Allgemein zum Fragebogen: Kück, Ausgefüllt, S. 341 ff.
  11. LkAH, L 5b, unverz., Spez. Essenrode, Visitation 1937.
  12. LkAH, L 5b, unverz., Spez. Essenrode, Visitation 1937.
  13. LkAH, S 1 H III Nr. 514, Bl. 4.
  14. LkAH, L 5h, unverz., Visitation Essenrode 1991.
  15. Strombeck, Archidiakonat-Eintheilung Halberstadt, S. 81.
  16. KABl. 1926, S. 201; KABl. 1965, S. 259.
  17. KABl. 1984, S. 19.
  18. Vgl. NLA HA, Dep. 122, Nr. 524 und NLA HA, Dep. 122, Nr. 522. Siehe auch Klingsing, S. 12.
  19. Mithoff, Kunstdenkmale V, S. 83: „Die dortige Kirche […] scheint ohne Bedeutung zu sein.“