Frühere Gemeinde | Anstaltsgemeinde | Sprengel Hildesheim-Göttingen, KK Hameln-Pyrmont | KO: Calenberger KO von 1569

Orts- und Kirchengeschichte

Im Jahr 1698 ließ die Regierung des Kfsm. Braunschweig-Lüneburg in der Festung Hameln ein Stockhaus errichten.1 Bereits 1713 begann der Bau eines größeren Stockhauses an der Fischpforte. Unter Bgm. Johann Georg Domeier (1770–1853), der das Gefängnis von 1819 bis 1840 nebenamtlich leitete, entstand 1827 der Neubau am Weserufer, in dem „ein ‚moderner‘ Strafvollzug möglich war“.2 Weitere Bauten ergänzten 1830, 1834 und 1845 das Hauptgebäude. Domeier zielte darauf, „aus dem unproduktiven, nur auf Vergeltung eingestellten Kerkertum eine großzügige Fabrikanlage zu schaffen, die den Erziehungsgedanken der Arbeit pflegen und daneben den rein praktischen Zweck der Selbsterhaltung durchführen sollte“.3
Domeier richtete zudem Religionsunterricht ein und später auch Unterricht in anderen Fächern. In einem Nachruf über Domeier schrieb der Hamelner P. Franz Georg Ferdinand Schläger (amt. 1822–1869), er habe mit der neuen Strafanstalt einen „Musterstaat“ geschaffen, „in welchem die höchste Reinlichkeit und Thätigkeit herrscht und durch Unterricht und Gottesdienst die Leichtsinnigen zum Ernste erhoben werden sollen“.4 Für die geistliche Versorgung der Insassen waren zunächst nebenamtlich die Hamelner Pastoren zuständig, etwa der Prediger an der Garnisonkirche P. Karl Johann Philipp Spitta (amt. 1830–1837).5 1845 richtete das Konsistorium eine selbständige Pfarre ein, deren Inhaber auch den Religionsunterricht im Gefängnis übernahm. Erster Pfarrer der Strafanstalt war P. Georg Wilhelm Schramm (amt. 1845–1852). Die 1841 erbaute und in den 1860er Jahren aufgestockte Anstaltskirche ersetzte den Betsaal im Hauptgebäude; das KGb war staatliches Eigentum.
Die Anstaltsgemeinde umfasste die Gefängnisinsassen (1834: 281, 1933: 498), nicht jedoch „die Beamten mit ihren Fa[milien]“; die Zahl der Amtshandlungen war dementsprechend gering.6 Neben den sonn- und festtäglichen Gottesdiensten hielt der Gefängnispfarrer einen Mittwochsgottesdienst sowie alle vier Wochen einen Gottesdienst im Amtsgerichtsgefängnis und „bei den auf der Kiesgrube bei Afferde untergebrachten ca. 60 Gefangenen“. Hinzu kamen in der Anstaltsschule der Religionsunterricht sowie „Vorträge über allgemein interessante Fragen“. „Die Haupttätigkeit des Geistlichen aber besteht natürlich in der speziellen Seelsorge bei den Gefangenen, in der Aufnahme der Eingelieferten (ca. 60–90 in jedem Monat), der durch sie veranlaßten Korrespondenz, in der der Fürsorge für die zu Entlassenen [sic] und besonders in den fleißigen Besuchen der isolierten Jugendlichen.“7
Der Lehrer der Anstaltsschule war in der Regel gleichzeitig Organist und leitete den Kirchenchor.8 1899 schrieb P. Heinrich Friedrich Ludwig Haase (amt. 1890–1930), Lehrer Busch habe sich als Dirigent des Kirchenchors „in den 26 Jahren seiner hiesigen Wirksamkeit bei seinem Eifer und seiner Begabung ein großes Verdienst erworben um die schöne Ausgestaltung der Gottesdienste, wie dasselbe schon früher hervorgehoben und nunmehr durch die Dekoration mit dem Adler der Inhaber des Hohenzollerschen Hausordens anerkannt ist“.9 1923 erhielt die Strafanstalt auch einen kath. Geistlichen, da die Zahl der kath. Gefangenen seinerzeit bei rund 250 lag.10
Während der NS-Zeit war P. Walter Bormann (amt. 1932–1943) Pfarrer der Strafanstalt (1935: Zuchthaus). Er gehörte kirchenpolitisch zu den DC und hatte die „Ortsgruppenführung der Deutschen Christen in Hameln“.11 Der Hamelner Sup. Albert Pellens (amt. 1935–1961) bezeichnete P. Bormann 1938 als „Wortführer derer, die von der kirchenpolitischen Sicht aus das Leben der Kirche zu gestalten suchen“.12 In der Beantwortung der Visitationsfragen schrieb P. Bormann zum Punkt „Kirchenfeindliche Bestrebungen“ im August 1933: „Die Hetzer sehen sich aber in der letzten Zeit mehr vor, da sie das Konzentrationslager fürchten.“13 In der Nachkriegszeit war das Gefängnis der zentrale Hinrichtungsort für Kriegsverbrecher*innen in der britischen Besatzungszone (bis 1949/50).14
Im Jahr 1955 wurde das Zuchthaus Hameln – und damit auch die Anstaltsgemeinde – aufgelöst. Ab 1958 war in den Gebäuden eine Jugendstrafanstalt untergebracht, für die ebenfalls ein ev. Pfarramt eingerichtet wurde.15 Die Anstaltskirche diente seit 1973 als Turnhalle, im Erdgeschoss wurde ein Kapellenraum eingerichtet. Die Jugendstrafanstalt zog 1980 nach Tündern um.

Umfang

Strafanstalt bzw. Zuchthaus Hameln (nur Gefängnisinsassen).

Aufsichtsbezirk

Mit Gründung der Gemeinde 1845 zur Insp. Groß Berkel, seit 1924 KK Groß Berkel, 1934 aufgegangen im neuen KK Groß-Berkel-Hameln, 1938 umbenannt in KK Hameln-Pyrmont.16

Patronat

Besetzung durch das Justiz- bzw. Innenministerium im Einvernehmen mit der Landeskirche.17

Kirchenbau
Hamlen, Kirche, Strafanstalt, Umbaublan, Schnitt, 1901

Umbaupläne 1901, Schnitt (anklicken für vollständige Ansicht), Bild: NLA HA Karten-Mappen Mappe Nr. 1047

Das KGb war staatliches Eigentum. Nach Süden ausgerichteter Backsteinbau, erbaut 1841, aufgestockt in der ersten Hälfte der 1860er Jahre. Flachgeneigtes Satteldach, nach Süden abgewalmt. Hochliegende, rundbogige Fenster an den Längsseiten (je fünf); Südseite mit Portal, darüber Rundfenster flankiert von zwei Rundbogenfenstern. Im Innern flache Decke, Empore im Norden; im Süden Orgelempore oberhalb des Altars. Um 1864/67 Kirche aufgestockt, Empore zur Isolation der Gefangenen mit 84 engen Holzverschlägen (stalls) versehen.18 Um 1901 Umgestaltung Innenraum (u. a. Orgel ebenerdig vor der Südwand aufgestellt, Altar auf die Südempore versetzt).19 1936 Umgestaltung Innenraum da die Kirche „durch spätere Einbauten sehr entstellt“ war.20 1973 Zwischendecke eingezogen, rechteckige Glasbausteinfenster im Erdgeschoss eingebaut; im Obergeschoss Turnhalle eingerichtet, im Erdgeschoss Kapellenraum.21 Um 1980 Gebäude abgebrochen.

Ausstattung

Im Kapellenraum befanden sich um 1975 ein Altartisch, eine lesepultartige Kanzel, ein Lesepult und ein Wandkreuz.

Orgel

Die Kirche und auch der spätere Kapellenraum besaßen jeweils eine Orgel.

Geläut

Um 1975 stand eine Glocke ungenutzt im Kapellenraum.

Friedhof

Kein eigener Friedhof, Beerdigungen fanden auf dem städtischen Friedhof Hameln statt.

Liste der Pastoren (bis 1940)

1845–1852 Georg Wilhelm Schramm. – 1852–1856 Julius Adolf Lilie. – 1856–1860 Karl Georg Christian Leverkühn. – 1860–1888 Heinrich Friedrich Rahn. – 1888–1890 Rudolf Justus Hermann Heinrich Ludwig von Jhering. – 1890–1930 Heinrich Friedrich Ludwig Haase. – 1930–1932 Gerhard Baetz. – 1932–1943 Walter Heinrich Georg Willi Bormann. – 1949–1953 Dr. Ernst Wesenberg (bereits seit 1947 kommissarisch).

Angaben nach: Meyer, Pastoren I, S. 402

Landeskirchliches Archiv Hannover (LkAH)

E 5 Nr. 441 (Konsistorialbaumeister); D 9 Nr. 721/01–11 (EphA Hameln-Pyrmont).

Kirchenbücher

Taufen: ab 1850
Trauungen: ab 1933
Begräbnisse: ab 1845
Kommunikanten: ab 1895
Konfirmationen: ab 1846

Literatur & Links

A: Dehio, Bremen/Niedersachsen, S. 592; Kayser, Inspektion Groß-Berkel, S. 59–62; Meyer, Pastoren I, S. 402.

B: Bernhard Gelderblom: Mordbefehl und Todesmarsch. Das Hamelner Zuchthaus in den Jahren 1944 und 1945, in: Detlef Creydt (Hg.): Zwangsarbeit für Industrie und Rüstung im Hils 1943–1945, Bd. 4, Holzminden 2001, S. 165–212 [auch online, 43 S.]; Bernhard Gelderblom: Vom Karrengefängnis zur Jugendanstalt. Über 300 Jahre Strafvollzug in Hameln, Holzminden 2009; Bernhard Gelderblom: Hameln – damals & heute. 109 Beiträge zur Stadtgeschichte, Holzminden 2017, bes. S. 42–45, S. 66–67, S. 74–75; Karl Ostermeyer: Johann Heinrich Domeier – ein unbekannter Gefängnisreformer, in: Blätter für Gefängniskunde 66 (1935), S. 331–343 [online]; Heinrich Spanuth & Rudolf Feige: Geschichte der Stadt Hameln, 2 Bde., Hameln 1939–1963.

Internet: Bildindex der Kunst & Architektur: Kirche, Kelche, Kanne und Kelch.


Fußnoten

  1. Spanuth & Feige II, S. 88. Vgl. insgesamt: Gelderblom, Karrengefängnis
  2. Gelderblom, Mordbefehl, S. 2. Vgl. ausführlich zu Domeier als Gefängnisreformer: Ostermeyer, S. 331 ff.
  3. Ostermeyer, S. 337.
  4. Zit. bei Gelderblom, Karrengefängnis, S. 32.
  5. Vgl. Gelderblom, Karrengefängnis, S. 29 f.
  6. LkAH, D 9, Nr. 721/03 (Jahresbericht des lutherischen Geistlichen bei dem Königl. Gefängnis zu Hameln für das Jahr 1. April 1903). Zahl der Insassen 1834: LkAH, D 9, Nr. 721/03 (Jahresbericht 1834); 1933: LkAH D 9, Nr. 721/07 (Visitation 1933).
  7. Alle Zitate: Kayser, Inspektion Groß-Berkel, S. 60.
  8. Gelderblom, Karrengefängnis, S. 45 ff.
  9. LkAH, D 9, Nr. 721/07 (Visitation 1899).
  10. LkAH, D 9, Nr. 721/07 (Visitation 1924).
  11. LkAH, D 9, Nr. 721/07 (Visitation 1933).
  12. LkAH, L 5a, Nr. 136 (Visitation 1938).
  13. LkAH, D 9, Nr. 721/07 (Visitation 1933).
  14. Gelderblom, Karrengefängnis, S. 75.
  15. Im Verzeichnis 1966, S. 9, ist „Hameln/Strafanstalt“ wieder als eigenständige KG geführt.
  16. KABl. 1934, S. 158; KABl. 1938, S. 93.
  17. Kayser, Inspektion Groß-Berkel, S. 59; Verzeichnis 1946, S. 24.
  18. Gelderblom, Karrengefängnis, S. 38 f. und S. 42.
  19. NLA HA Karten-Mappen Mappe Nr. 1047, Digitalisate 78 und 80.
  20. LkAH, E 5 Nr. 441. Entwürfe: NLA HA Karten-Mappen Mappe Nr. 1047, Digitalisate 81 und 83–85.
  21. Bilder um 1975: Bildindex der Kunst & Architektur.