Anstaltsgemeinde | Sprengel Lüneburg, KK Gifhorn | Patrozinium: Lazarus (seit 2012) | KO: Lüneburger KO von 1643

Orts- und Kirchengeschichte

Im Januar 1883 fand sich im Evangelischen Verein in Hannover ein Komitee zusammen, das die Gründung eines „Vereins für Arbeiterkolonien in Hannover“ vorbereitete, um „der Vagbondage und der Wanderbettelei entgegenzuwirken“.1 Zur Unterstützung obdachloser Wanderarbeiter hatte P. Friedrich von Bodelschwingh im Jahr zuvor eine erste derartige Kolonie in Wilhelmsdorf südlich von Bielefeld gegründet; diese Anstalt diente als Vorbild („Arbeit statt Almosen“). Auf Vorschlag des Gifhorner P. Georg August Daniel Isenberg (amt. 1877–1884) erwarb der Vorsitzende des Komitees schon im Februar 1883 eine Hausstelle mit Ziegelei und Ackerland in Kästorf nördlich von Gifhorn. Die ersten Wanderarbeiter konnten im Mai aufgenommen werden, der Verein (seit 1885 juristische Person) übernahm die Trägerschaft der Arbeiterkolonie. Der Gifhorner Sup. Hans Adolf Leo Schuster (amt. 1885–1901) war von 1886 an im Nebenamt Leiter der Kästorfer Anstalten.2 Die seelsorgerliche Betreuung lag beim Inhaber der zweiten Pfarrstelle der KG Gifhorn.3

Kirche, Außenansicht, 1912

Kirche, Außenansicht, 1912

Mitte der 1890er Jahre entschied das Hauptkomitee des „Vereins für Arbeiterkolonien“, für die Kästorfer Anstalten einen eigenen Geistlichen anzustellen. Denn die Bewohner der Anstalt machten sich seltener auf den Weg zum Gottesdienst in das sechs Kilometer entfernte Gifhorn – nicht zuletzt, um die „Lästerallee der Leute“ zu meiden. P. Karl Fiesel (amt. 1897–1929) kam gleichzeitig als Vorsteher der Anstalten und als Seelsorger nach Kästorf; er hatte formal eine ständige Pfarrkollaboratur bei der KG Gifhorn inne.4 Zum Gottesdienst versammelte sich die Anstaltsgemeinde zunächst im Speisesaal. Eine Anstaltskirche wurde 1911/12 errichtet, ein eigener Friedhof 1913 angelegt. Die Gründung einer selbständigen Anstaltsgemeinde hatte das preußische Kultusministerium hingegen 1908 abgelehnt und auch später kam es nicht zur Einrichtung einer Parochie „Kolonie Kästorf“.5 P. Fiesel gab bei der ersten Visitation 1910 entsprechend an: „Das Anstaltsgebiet als Arbeitsgebiet des Pastor collaborator ist ein Teil der Parochie Gifhorn“.6 Anlässlich der Visitation 1935 hielt der Sup. des KK Gifhorn fest, dass „in der Anstaltsgemeinde Kästorf keine eigenen Kirchenbücher geführt werden, sondern […] alle Eintragungen in den Kirchenbüchern zu Gifhorn erfolgen“.7 Auch ein eigener KV bestand nicht.
Unter P. Feisel weitete sich das Arbeitsgebiet der Kästorfer Anstalten aus: 1901 kam die Trinkerheilstätte Haus Isenwald hinzu, 1911 das Erziehungsheim Rischborn (1939 von Provinzialverwaltung Hannover übernommen, seit Januar 1946 wieder Teil der Anstalten)8 und 1926 das Alten- und Pflegeheim Hagenhof. Zudem merkte P. Fiesel bei der Visitation 1910 an, seine Gemeinde umfasse nicht allein die Pfleglinge, Kolonisten und Angestellten: „Ich halte es für meine besondere Pflicht, den Entlassenen nachzugehen und das angeknüpfte Band nicht mit dem Abgang zerreissen zu lassen. Abgesehen von schriftlichem Verkehr waren dazu manch saure Reisen nicht nur in der Provinz Hannover und im Herzogtum Braunschweig, sondern auch darüber hinaus bei gegebener Gelegenheit zu machen. So stehe ich mit 400 früheren Isenwaldern, 100 entlassenen Zöglingen und mehreren 100 früheren Kolonisten in Verbindung, so dass meine ‚kleine‘ Gemeinde sicher über 1000 Seelen zählt.“9 In den Kästorfer Anstalten befanden sich auch einige Katholiken, mitunter einige Baptisten „oder sonstige Sektenleute“, einige Konfessionslose und einige Juden. „Nach dem Unterschied zwischen Lutheraner und Reformierten kann hier nicht gefragt werden. Kästorf ist in diesem Sinne die unierteste Gemeinde Hannovers.“10

Kirche, Blick zum Altar

Kirche, Blick zum Altar

Während der NS-Zeit leitete P. Martin Müller (amt. 1929–1958, 1939–45 Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft) die Kästorfer Anstalten; er trat 1933 in die NSDAP ein und war Mitglied der Kreisleitung der NSV.11 Bei der Umsetzung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (1933) legten P. Müller und die verantwortlichen Mitarbeiter in Kästorf „Übereifer“ an den Tag; im Erziehungsheim Rischborn bemühte P. Müller sich, die Jugendlichen in „lebendige Berührung“ mit den Gedanken des Nationalsozialismus zu bringen.12
Nachdem die Kästorfer Anstalten 1931 im Clausmoorhof eine weitere Arbeiterkolonie eingerichtet hatten, übernahmen sie 1948 auch das Christinenstift in Gifhorn (gegründet 1886 als „Herberge zur Heimat Gifhorn“). 1974 änderte die Einrichtung ihren Namen in „Diakonische Heime in Kästorf“ und 2011 schloss sie sich mit dem Hannoveraner Stephansstift in der „Dachstiftung Diakonie“ zusammen.
P. Müller beschrieb seine Gemeinde bei der Visitation 1935 als eine „Anstaltsgemeinde der Inneren Mission bei den Kästorfer Anstalten“.13 Im „Verzeichnis der Kirchen- und Kapellengemeinden“ von 1946 sind die Kästorfer Anstalten als Anstaltsgemeinde aufgeführt, in den Verzeichnissen von 1959 und 1966 sind sie richtiger als „selbständige Anstalten, die noch keine Anstaltsgemeinde sind“ gelistet.14 Die seelsorgerliche Arbeit obliegt mittlerweile dem Kirchlichen Dienst der Diakonie Kästorf.

Umfang

Kästorfer Anstalten.

Aufsichtsbezirk

KK Gifhorn.

Patronat

Über die Besetzung der Pfarrstelle entschied seit 1897 das Hauptkomitee des Vereins für Arbeiterkolonien in Hannover.

Kirchenbau

Neuromanischer, westsüdwestlich ausgerichteter Bau, errichtet 1911/12 (Architekt: Oswald Magunna, Hannover). Satteldach mit kleinen Dachgauben; Backsteinmauerwerk mit Bruchsteinsockel; an den Längsseiten gekuppelte Rundbogenfenster in Rechteckfeldern, unterhalb der Traufe weiß hinterlegter Rundbogenfries; an der ostnordöstlichen Giebelwand kleiner Vorbau mit rundbogigem Portal, daneben kleiner Treppenturm (Empore). Im Innern trapezförmige, holzverschalte Decke; runder Triumphbogen zwischen Schiff und Altarraum; u-förmige Emporenanlage. Im Keller Lagerraum für landwirtschaftliche Produkte.

Turm

Querrechteckiger Chorturm mit Satteldach. Backsteinmauerwerk, hoher Unterbau aus Bruchsteinmauerwerk mit Eckquaderung; großes, gegliedertes Rundbogenfenster nach Westsüdwesten (Altarfenster); im Glockengeschoss kleine, rundbogige Schallfenster, darüber weiß hinterlegter Rundbogenfries; in den Giebeldreiecken je drei weiße Blendnischen.

Ausstattung

Schlichter Blockaltar. – Hohe Holzkanzel.

Kirche, Blick zur Orgel, nach 1975

Kirche, Blick zur Orgel, nach 1975

Orgel

1899 Orgel für Speisesaal (= Gottesdienstsaal) erworben, 8 II/P, mechanische Traktur, Schleifladen, erbaut von Furtwängler und Hammer (Hannover), zuvor als Interimsorgel in der St. Nicolaikirche in Lüneburg. 1912 Orgelneubau, ausgeführt von Firma Rohlfing (Osnabrück), 13 II/P, mechanische Traktur, Schleifladen (Opus 145). Umbau 1947, ausgeführt von Hermann Hillebrand (Altwarmbüchen). Umbau 1959, ausgeführt von Friedrich Weißenborn (Braunschweig), 18 II/P, mechanische Traktur, Schleifladen.15

Geläut

Eine LG (Bronze), Inschrift u. a.: „Und die im Elend sind führe ins Haus“. – Früherer Bestand: Eine LG, Inschrift u. a. „Ich bin ein Gast auf Erden“, aufgestellt neben der Kirche.

Friedhof

Anstaltsfriedhof bei der Kirche, angelegt 1913.

Liste der Pastoren (bis 1940)

Anstalten:
1897–1929 Karl Friedrich Konrad Rudolf Fiesel. – 1930– Karl Hermann Heinrich Martin Müller.

Angaben nach: Meyer, Pastoren II, S. 3

Landeskirchliches Archiv Hannover (LkAH)

A 5 Nr. 255 (Spec. Landeskons.); A 6 Nr. 4320 (Pfarrbestallungsakten); A 12d Nr. 578 (GSuptur. Aurich); D 40 (EphA Gifhorn); L 5a Nr. 933, 1695 (LSuptur. Calenberg-Hoya); S 09 rep Nr. 127, 540, 1545 (Presseausschnittsammlung); S 9a Nr. 286 (Ausschnittsammlung des Evangelischen Pressedienstes); S 11a Nr. 8068 (Findbuch PfA).

Kirchenbücher

Eintragungen in Gifhorn.

Literatur

A: Gemeindebuch KK Gifhorn, S. 19–20; Piper, Orgeln, S. 17.

B: Geschichten aus der Kästorfer Diakonie, hrsg. von den Diakonischen Heimen in Kästorf e. V., Braunschweig 2008; Karl Fiesel: Eine Missionsstation in der Lüneburger Heide, Hannover 1925; Steffen Meyer: Unwertes Leben? Zwangssterilisation in den Kästorfer Anstalten zur Zeit des Nationalsozialismus, Hannover 2008; Wilhelm Warnecke: Geschichte unseres Dorfes Kästorf, Peine 1987; Johannes Wolff & Karl Janssen: Geschichte der Diakonischen Heime in Kästorf e. V. 1883–1983, Gifhorn 1983.

Weitere Bilder

Fußnoten

  1. Zur Gründung der Kästorfer Anstalten vgl. Wolff/Janssen, S. 5 ff.; Meyer, S. 35 ff. Zitat ebd., S. 36.
  2. Wolff/Janssen, S. 9.
  3. Wolff/Janssen, S. 11.
  4. LkAH, D 40, Spec. Käst. 100; Böhmer, Besetzung Pfarrstellen, S. 13.
  5. Wolff/Janssen, S. 19; LkAH, D 40, Spec. Käst. 100. Das Königlich Konsistorium Hannover schrieb im Oktober 1910 an das Hauptkomitee des Vereins für Arbeiterkolonien in Hannover, dass eine eigenständige KG zwar möglich sei, dass das Kultusministerium jedoch darauf hingewiesen habe, dass „das Pfarrbesoldungsgesetz, die Ruhegehaltsordnung und das Reliktengesetz auf den Anstaltsgeistlichen keine Anwendung finde. Damit würde aber, wie wir annehmen, das Ziel, das Wohldasselbe erstrebt, nicht erreicht werden können.“ (ebd., Schreiben vom 04.10.1910).
  6. LkAH, D 40, Spec. Käst. 143 (Visitation 1910).
  7. LkAH, L 5b, unverz., Spez. KG Kästorfer Anstalten, Visitation 1935 und Visitation 1941.
  8. LkAH, L 5b, unverz., Spez. KG Kästorfer Anstalten, Visitation 1941 und Visitation 1948.
  9. LkAH, D 40, Spec. Käst. 143 (Visitation 1910, ähnlich: Visitation 1917).
  10. LkAH, D 40, Spec. Käst. 143 (Visitation 1910, ähnlich: Visitation 1917).
  11. Meyer, S. 47. Meyer fand „zahlreiche Schriftstücke und Aufsätze von Martin Müller aus der Anfangszeit des Nationalsozialismus, die seinen Enthusiasmus für die neuen Machthaber verdeutlichen“ (ebd., S. 43).
  12. Meyer, S. 98 und 47. Hinsichtlich der Zwangssterilisationen resümiert Meyer überdies: „Handlungsspielräume hingegen, die es trotz der gesetzgeberischen Zwänge gab, wurden nicht genutzt“ (ebd., S. 98).
  13. LkAH, L 5b, unverz., Spez. KG Kästorfer Anstalten, Visitation 1935.
  14. Verzeichnis 1946, S. 19. Verzeichnis 1959, S. 53; Verzeichnis 1966, S. 57, und jeweils Erläuterung in den Vorbemerkungen, S. VII.
  15. Piper, Orgeln, S. 17.