Sprengel Hannover, KK Nienburg | Patrozinium: Michael | KO: Lüneburger KO von 1643
Orts- und Kirchengeschichte
Mit Bau des Bahnhofs 1847 und der Ansiedlung verschiedener Industriebetriebe dehnte sich die Stadt Nienburg in der zweiten Hälfte des 19. Jh. besonders nach Norden aus (u. a. Heyesche Werksiedlung). In der zweiten Hälfte des 20. Jh. setzte sich das Wachstum fort; insbesondere die Gemeinnützige Baugesellschaft Nienburg (GBN) errichtete hier neue Wohnbauten. Zudem ließ die Kali-Chemie AG die Werkssiedlung Martinsheide errichten. Der Nienburger Sup. Gerhard Kleuker (amt. 1954–1973) nannte das Gebiet der Michaelsgemeinde 1962 das „Industrieviertel der Stadt“; nach Einschätzung der Ortspfarrer setzte sich die Gemeinde etwa zu einem Drittel aus Fabrikarbeitern zusammen, während sich die verbleibenden zwei Drittel auf „Beamte und Angestellte“ verteilten.1
In der Nordertorschule fanden seit 1885 regelmäßige Bibelstunden statt (Lehrer Harms).2 1892 richtete das Konsistorium eine ständige Pfarrkollaboratur für den Norden der KG Nienburg ein, die 1903 in eine Pfarrstelle umgewandelt wurde. Erster Inhaber dieser Stelle war P. Heinrich Friedrich Ernst Zieseniß (amt. 1903–1933). Als Gottesdienststätte seines Pfarrbezirks, der „Nordertorgemeinde“, diente die 1879 fertiggestellte FKap auf dem alten Friedhof (seit 1903: Lutherkapelle). Pläne, im Norden Nienburgs eine neue Kirche zu errichten, kamen in der ersten Hälfte des 20. Jh. nicht zur Ausführung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs stieg die Einwohnerzahl Nienburgs weiter an und das Landeskirchenamt errichtet 1951 eine vierte Pfarrstelle, die zunächst P. Siegfried von Scheven (amt. 1952–1954) übernahm, dem P. Arnulf Werwath (amt. 1955–1970) folgte. Der neue vierte Pfarrbezirk umfasste das Gebiet der späteren Michaelsgemeinde.
Im Jahr 1955 beschloss der KV Nienburg, ein kirchliches Zentrum im Norden Nienburgs errichten zu lassen, dass Kirche, Gemeindehaus und Pfarrhaus umfassen sollte. Hinzu kamen außerdem Schwesternstation, Mitarbeiterwohnhaus und Kindergarten; letzterer sollte von der Stadt gebaut, aber von der KG betrieben werden. Das Projekt war eingebettet in die Gesamtplanung der Siedlung Martinsheide, die in den Händen der Architektengemeinschaft Hübotter-Ledeboer-Romero (Hannover) lag.3 Am 24. Juni 1956 konnte der Grundstein gelegt werden und am 12. Mai 1957 weihte Lbf. Hanns Lilje (amt. 1947–1971) die Michaelskirche ein. Zum 1. Oktober 1957 gründete sich die „Ev.-luth. Michaelsgemeinde Nienburg“ und übernahm die vierte Pfarrstelle ihrer Muttergemeinde St. Martin.4 Drei Jahre später richtete das Landeskirchenamt eine zweite Pfarrstelle in der neuen Gemeinde ein (1. Mai 1960, P. Dietrich Kunze, amt. 1960–1965).5 Zusammen mit ihrer Muttergemeinde ist die Michaels-KG Trägerin der Nienburger Kantorei (1951 als Niederdeutsche Kantorei gegründet, Umbenennung 2001).
Die Michaelskirche lässt sich beschreiben als eine „bergende, die Gemeinde gegen die Mächte des Bösen wie eine Festung schützende Kirche“.6 Dieser Kirchenbau will „zum Gottesdienst passen, er will umbaute Liturgie, ja selbst ein Stück Liturgie sein“.7 Die beiden ersten Pastoren der neuen Gemeinde, P. von Scheven und P. Werwarth, gehörten beide der Evangelischen Michaelsbruderschaft an. Auch Karl-Bernhard Ritter, der an der theologischen Konzeption des Kirchenbaus beteiligt war, war ein Michaelsbruder.8 Diese Konstellation prägte die Anfangsjahre der entstehenden Michaelsgemeinde („betont liturgische Ausrichtung der Gemeindearbeit“).9 Anfang Dezember 1957 eröffnete die Gemeinde den ev. Kindergarten (1981 Neubau nach Brand 1979). Nach der ersten Visitation der jungen Gemeinde zog der Nienburger Sup. Gerhard Kleuker (amt. 1954–1973) ein positives Fazit. Am gottesdienstlichen Leben sei die Bevölkerung der nunmehrigen Michaelsgemeinde vor 1957 kaum beteiligt gewesen: „Insofern bedeuten der sich nun entwickelnde Kirchenbesuch und die Jugendarbeit einen guten Anfang.“ Die Gemeinde bliebe „weithin noch ‚Missionsgebiet‘, das aber seine Verheißung hat“.10 Eine Herausforderung blieb die Industriearbeiterschaft; hier gelinge die Einbeziehung „in die gemeindliche Arbeit nur sehr bedingt“, fasste LSup. Günter Linnenbrink (amt. 1976–1984) die Situation im Visitationsbescheid 1981/83 zusammen.11
Im Rahmen der Partnerschaft zwischen den Landeskirchen Sachsens und Hannovers unterhielt die Michaels-KG besonders in den 1970er und 1980er Jahren eine Partnerschaft mit der sächsischen Kirchgemeinde Oberfrankenhain, Hopfgarten, Frauendorf (heute Teil des Kirchspiels Geithainer Land).12 Zudem wirkt die Gemeinde mit in der seit 1979 aufgebauten Kirchenkreispartnerschaft mit dem südafrikanischen KK Tshwane (Pretoria).
Aufgrund sinkender Gemeindegliederzahlen besteht seit Anfang der 2000er Jahre nur noch eine Pfarrstelle in der Gemeinde. Seit 2005 betreibt die St.-Michaels-KG eine monatliche Suppenküche; als weiteres sozial-diakonisches Projekt bietet sie ein ebenfalls monatliches Kinderfrühstück an. Die Trägerschaft der Kindertagesstätte übernahm 2010 der KK Nienburg. Seit der Kombination der in eine Dreiviertelstelle umgewandelten Pfarrstelle der St.-Michaels-KG mit der 25-prozentigen dritten Pfarrstelle der benachbarten St.-Martins-KG im Jahr 2012, kooperieren die beiden Gemeinden in der „Arbeitsgemeinschaft St. Michael und St. Martin“ (u. a. gemeinsame Konfirmandenarbeit).
Pfarrstellen
I: (1951) 1957, übernommen von Muttergemeinde St. Martin, seit 2012 Dreiviertelstelle.13 – II: 1960; 1999 halbe Stelle, 2002 vakant, später aufgehoben.14
Umfang
Der Norden der Stadt Nienburg (ohne spätere Eingemeindungen), Südgrenze: Bahnlinie und B 215.15
Aufsichtsbezirk
Mit Gründung der KG 1957 zum KK Nienburg.
Kirchenbau
Kreuzförmiger Ziegelbau, ausgerichtet leicht ostsüdöstlich, errichtet 1956/57 (Architektengemeinschaft: Peter Hübotter, Rolf Romero, Bert Ledeboer, Hannover); denkmalgeschützt (Einzeldenkmal).16 Nord- und Südwand des Chorraums leicht nach innen geknickt; Ost- und Westwände der Querarme leicht abgewinkelt; nördlicher Querarm kürzer als südlicher.17 Flachgeneigtes Satteldach (Blech), im Osten bekrönt mit Kreuz. An den Längsseiten kleine, hochliegende Rechteckfenster; am Chor hochrechteckige, bodentiefe Fensterflächen nach Norden und Süden, Westseiten der Querhausarme aus großen, farbigen Glasbausteinen; an der Westseite Michaelsrelief; als Eingangsbereich und Verbindung zum Turm schließt sich an der Südwestecke ein Gang mit Glasbausteinwänden und Flügeltüren nach Osten und Westen an. Im Innern offener Dachstuhl mit holzverschalten Deckenflächen, getragen von seitlich stehenden, schlanken Säulen; Wände verklinkert, im Altarraum verputzt und hell gestrichen; Emporen im Westen und im nördlichen Querarm (darunter Küsterraum, davor Bank für Kirchenvorsteher*innen); in Verlängerung des Glasgangs Taufkapelle (Nordwestecke der Kirche). 1987 Dachsanierung. 2007 Sanierung Glasgang.
Fenster
Farbiges Betonglasfenster in Taufkapelle (1957, Gerhard Hausmann, Hamburg), Berg Ararat, Arche Noah und Taube. Betonglasfenster in Sakristei (1957, Gerhard Hausmann, Hamburg), Auge Gottes und Thron Salomons.
Turm
Südwestlich der Kirche. Schlanker, viereckiger, verklinkerter Turm mit Satteldach. In der Glockenstube je sieben kleine Sechseckfenster nach Norden und Süden, große, hochrechteckige Schallöffnungen mit horizontalen Lamellen nach Osten und Westen (ursprünglich offen), darunter quadratische Uhrziffernblätter. 1998 Außenmauerwerk erneuert. 2008 Stahlglockenstuhl durch Holzglockenstuhl ersetzt.
Ausstattung
Schlichter Altar (1957), aus zwei Oberkirchener Sandsteinblöcken; Mensa mit fünf eingemeißelten Kreuzen. – An Altarwand kreuzförmiges Bildwerk (1957, Entwurf: Franz Rickert, München; Schmiedearbeit: Gerhard Glüder, Hamburg), in der Mitte Mandorla mit segnendem Christus auf Regenbogen, Inschrift: „Kommet alle zu mir, die ihr euch abmüht. Ich werde eure Kraft erneuern“ (Mt 11,28); Mandorla umgeben von blattförmigen Symbolen der vier Evangelisten; Kupfer, Emaillefarben, Bergkristalle, Gold. – Zylinderförmige Taufe (1957), Oberkirchener Sandstein, in Taufkapelle, zeitweise im Altarraum.18 – Tragbarer Taufständer (angeschafft 1982). – Leicht erhöhte Kanzel (1957), Sandsteinsockel, hölzerne Brüstung. – Außen in der Westwand: Relief Erzengel Michael (1962, Siegfried Zimmermann, Hannover), gebrannter Ton.
Orgel
Zunächst Kleinorgel, 4 I/aP, mechanische Traktur, Schleifladen, erbaut von Alfred Führer (Wilhelmshaven), Serienmodell; 1966/67 verkauft an KapG Pennigsehl.19 Neue Orgel 1966/67, erbaut von Paul Ott (Göttingen), aufgestellt im rechten Querhausarm, 24 II/P (HW, RP), mechanische Traktur, Schleifladen; 1992 Überholung und Erneuerung zweier Register, ausgeführt von Firma Friedrich Tzschökel (Althütte). Denkmalorgel (seit 2003).20
Geläut
Vier LG, I: asʼ, St. Michael, Bild: Symbol St. Michael; II: desʼʼ, St. Gabriel, Totenglocke, Bild: Symbol St. Gabriel; III: esʼʼ, St. Raphael, Bild: Symbol St. Raphael; IV: gesʼʼ, Sanktus (alle Bronze, Gj. 1957, Firma Rincker, Sinn), Bildschmuck entworfen von Helmuth Uhrig (Arnoldsheim).
Weitere kirchliche Gebäude
Pfarrhaus I (Bj. 1959), Verdener Straße, 2014 verkauft. – Pfarrhaus II (Bj. 1963), Sedanstraße. – Gemeindehaus (Bj. 1958), denkmalgeschützt. – Amtsträgerwohnhaus (Bj. 1959/60), verkauft.
Friedhof
Kein gemeindeeigener Friedhof. Kirchliche Friedhöfe Nienburgs Eigentum der St.-Martins-KG. – Städtischer Friedhof am Kräher Weg (Ostrand der Stadt), FKap.
Landeskirchliches Archiv Hannover (LkAH)
L 5a Nr. 288–289, 294, 1315 (LSuptur. Calenberg-Hoya mit Verden-Hoya und Celle); S 09 rep Nr. 1761 (Presseausschnittsammlung); S 11a Nr. 8125 (Findbuch PfA).
Kirchenbücher
Taufen: ab 1957
Trauungen: ab 1957
Begräbnisse: ab 1957
Kommunikanten: ab 1957
Konfirmationen: ab 1957
Früher siehe Nienburg, St. Martin.
Literatur & Links
A: Heckmann, Kirchen und Kapellen, S. 44–45; Müller, Orgeldenkmalpflege, S. 86 und 162–163.
B: St. Michael Nienburg. 50 Jahre Kirche im Nordertor. 1957–2007. Festschrift zum Jubiläum 5. bis 13. Mai, hrsg. vom Kirchenvorstand der Kirchengemeinde St. Michael, Nienburg 2007; Ev.-Luth. St. Michaels-Kirche Nienburg/ Weser, hrsg. vom ev.-luth. Pfarramt St. Michael Nienburg/Weser, Stuttgart 1962; Mark Feuerle (Hg.): Nienburg. Eine Stadtgeschichte, Bremen 2010; Karl-Bernhard Ritter: Liturgie und Kirchbau. Vortrag auf der Kirchenbautagung in Loccum. Gespräch mit den Architekten der Kirche Nienburg/Weser, Bauwelt 50 (1959), S. 406–407 und 412–413; Karl-Bernhard Ritter: Kirchbau als Symbol, in: Kunst und Kirche 23 (1/1960), S. 2–11; Hermann Ziegler: Die Lutherkapelle, in: Dietmar Obstoj (Red.): Glasherstellung in Nienburg. 100 Jahre Wilhelmshütte 1891–1991, Nienburg/Weser 1991, S. 114–115.
Internet: Bildindex der Kunst & Architektur: Kirche (außen), Kirche (innen); Denkmalatlas Niedersachsen.
GND
2031981-2, Evangelisch-Lutherische Sankt-Michaels-Kirchengemeinde (Nienburg / Weser); 7649022–1, Sankt Michael (Nienburg, Weser)
Website der Kirchengemeinde (27.08.2021)
Fußnoten
- LkAH, L 5a, Nr. 288 (Visitation 1962).
- Ziegler, S. 114 f. Zur Entstehung und Entwicklung der Michaelsgemeinde vgl. v. a. 50 Jahre, S. 6 ff.
- 50 Jahre, S. 8: „So entstand mit Siedlung, kirchlichem Zentrum, Kindertagesstätte und Ladenzeile an der Prinzenstraße ein geschlossenes Ensemble, das später als Baudenkmal unter Schutz gestellt wurde.“
- KABl. 1957, S. 171.
- KABl. 1960, S. 73.
- 50 Jahre, S. 10. Wegen der hochliegenden Fenster im Kirchenschiff hieß der Bau in der Gemeinde auf „Giraffenstall“, vgl. ebd., S. 9.
- St. Michaels-Kirche (1962), S. 6. Vgl. ebd. für eine erläuternde Beschreibung der Kirche und ihrer Ausstattung. Zur theologischen Konzeption vgl. ausführlich: Ritter, Liturgie und Kirchbau, S. 406 f. sowie Ritter, Kirchbau als Symbol, S. 3 ff.
- Karl-Bernhard Ritters Sohn leitete das Nienburger Werk der Kali-Chemie AG, vgl. 50 Jahre, S. 8.
- LkAH, L 5a, Nr. 289 (Visitation 1981).
- LkAH, L 5a, Nr. 288 (Visitation 1962).
- LkAH, L 5a, Nr. 289 (Visitation 1981).
- Allgemein: Cordes, Gemeindepartnerschaften, S. 38 ff.
- KABl. 1951, S. 47; KABl. 1957, S. 171.
- KABl. 1960, S. 73.
- KABl. 1957, S. 171.
- Denkmalatlas Niedersachsen.
- Grundriss: St. Michaels-Kirche, S. 14.
- 1971 ließen Pfarramt und KV den Taufstein aus der Taufkapelle in den Altarraum versetzen. Die Gemeinde sprach sich jedoch im Nachhinein gegen diese Änderung aus, die schließlich 1982 rückgängig gemacht wurde, vgl. 50 Jahre, S. 15.
- LkAH, B 2 G 9 B, Nr. 475, Bl. 64 und 105.
- 50 Jahre, S. 18.